Majorana Eigenstates, 2008

Majorana Eigenstates, 2008, Marco Poloni

Majorana Eigenstates ist Teil des Werkzyklus The Majorana Experiment (2008-10), der sich mit der Geschichte des italienischen Physikers Ettore Majorana (1906-1938) auseinandersetzt, der 1938 unter mysteriösen Umständen auf einem Postschiff von Palermo nach Neapel verschwand. Majorana, ein zurückgezogener, scheuer Mann, kam nie in Neapel an, wo er dazumal als 31-Jähriger als einer der brillantesten Köpfe und gewichtigsten Physiker seiner Generation an der Universität lehrte. Was mag der Grund seines Verschwindens sein? Dies beschäftigt den studierten Physiker Marco Poloni in obsessiver Weise. War Majorana lebensmüde, wurde er Opfer eines Komplotts, da er mit zwei Wegbereitern der Atombombe – Werner Heisenberg und Enrico Fermi – in Kontakt stand und sich ebenfalls mit Kernphysik und relativistischer Quantenmechanik beschäftigt hat, oder tauchte er in Argentinien unter? Ist sein Verschwinden vielleicht nur eine Inszenierung, um sich dem anbahnenden nuklearen Wettrüsten zu entziehen? Die Legenden und Verschwörungstheorien sind zahlreich.

Im Rahmen dieses offenen historischen Dispositivs entwickelt Poloni seinen Werkkomplex. Dabei interessiert ihn weniger die Suche nach der Wahrheit, als vielmehr die Frage, wie Wirklichkeit konstruiert, wie eine Geschichte geschaffen wird, und in welcher Weise sich Fiktion und Wirklichkeit bedingen.
Der Werkkomplex wird als work in progress verstanden und in diesem Sinne auch präsentiert, was Poloni 2009 in La Rada Locarno und schliesslich 2010 in der Kunsthalle Bern mit mehreren Filmen, historischen Dokumenten und Fotoserien, die installativ im Raum präsentiert werden, zum Ausdruck bringt. Er vermeidet dabei jegliche Kohärenz und Logik. Zentraler Teil darin bildet sein Hauptfilm
Majorana Eigenstates: Zeitgleich mit zwei Kameras von verschiedenen Perspektiven ausgehend aufgenommen, öffnen, entfalten, trennen und verdoppeln sowie komprimieren sich aus dem Dunkel intime und stille Szenerien der immer selben Wände, Couloirs, Räume und stilllebenhaften Momente. Aufgenommen wurde der Film in einer grossen Box mit dem minutiös rekonstruierten Interieur einer Schiffskabine auf hoher See zum einen und eines Hotelzimmers in Neapel zum andern. Hier findet sich, festgehalten von fliessenden, kreisenden Kamerabewegungen, der junge, wartende, rauchende, schreibende, sinnierende, schreitende, Schach spielende Majorana, aber auch kurze Momente, in denen der Protagonist aus dem Fenster oder durch die Luken aufs Meer blickt, sind wahrzunehmen. Die stillen Momente erinnern an die veristischen, rätselhaften Bilder von René Magritte wie an die Rückenfiguren Caspar David Friedrichs, wo dem Betrachter die Möglichkeit gegeben wird, nicht nur am Wahrgenommenen zu zweifeln, sondern sich ebenso mit der solitären Figur zu identifizieren und an dessen Stelle zu treten. Durch die beiden Kameras, die von unterschiedlichen Blickpunkten ausgehend dieselbe Szene aufnehmen, ergeben sich überschneidende, divergierende und allmählich wieder zusammenfindende, stille Bilder (selten wird die Stille, etwa durch die Schritte Majoranas, gestört). Dies erweckt den Eindruck, dass wesentliche Informationen nicht zugänglich sind und die Bilder geöffnet oder zerschnitten werden sollten, um dahinter blicken zu können. Wie in Polonis präsentierten Fotografien und Dokumenten mit ihrer installativen Hängung und entscheidenden Leerräumen, kommt auch bei diesen Leerstellen im Film der Imagination des Betrachters ein bedeutender Stellenwert zu.
Die wahre, aber offene Geschichte als gemeinsamer Ausgangspunkt des Werkkomplexes ergibt den Eindruck der Ambiguität – Polonis Werke sind als visuelle Annäherungen an ein Rätsel zu verstehen, das Realität heissen mag und in ihrem narrativen Erzählmuster weder überschaubar, noch linear und rational zu fassen sind. So führen, als folgender Teil des Werkkomplexes zwei Filme die Geschichten weiter, wobei
The Sea Rejected Me vom Künstler bei einem Händler mit gebrauchtem Filmmaterial in Teheran gefunden wurde. Als Found Footage zeigt er somit ein historisches Dokument aus den 1930er-Jahren: Bilder von einem Linienschiff, das Neapel mit Buenos Aires verband. Es finden sich Umrisse eines Menschen an Bord – warum nicht der verschollene Physiker? Legenden oder Meldungen zufolge wollen mehrere Menschen Majorana in Argentinien gesehen haben. Der andere Film, The Sea of Majorana gibt den Blick frei aufs Meer zwischen Palermo und Neapel, wo einst der Physiker verschwunden ist.
Eine Anzahl von Fotografien
Persian Gulf Incubinator erzählt weiterfolgende Geschichten, wie das Wrack des italienischen Luxusliners M/S Raffaello im Persischen Golf gefunden wurde, das nach der Ölkrise im Jahr 1973 vier Jahre später vom Schah von Persien erworben wurde und 1983 von iranischen Kampfjets, wenige Meilen vor dem iranischen Atomreaktor Bushehr, versenkt wurde. Mit diesem weiterführenden Entwicklungsstrang findet sich eine Anbindung an die Gegenwart, in welche die Politik von Ost und West bis heute verwickelt ist.
Letztendlich kann der Werkkomplex, ausgehend vom Verschwinden einer Person, als eine Vielzahl von Eigenstates – „a dynamic quantum mechanical state whose wave function is an eigenvector that corresponds to a physical quantity“ (hier spricht eindeutig ein Physiker) – erlebt werden, die gleichzeitig an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten existieren.

EMJ

 

Künstler
Marco Poloni
Gattung
Video
Material
Continuous video projection with sound, HD Video, 1: 2,35, colour, stereo, loop of 46' Ed. 5/ 1/5
Masse
dimensions variable
Standort
x
Inventarnummer
Credits
Schenkung Stiftung Kunst Heute, 2010
Provenienz
beim Künstler, 2010
Ausstellungsgeschichte

La Rada, Locarno, 2009

Kunsthalle Bern, 2010

Literatur

Weitere Infos

Das Werk konnte mit der Unterstützung der Alfred Richterich Stiftung erworben werden.