Ohne Titel, 1983
Leiko Ikemura spricht angesichts ihrer 14-teiligen Zeichnungsserie von „realen Begebenheiten" und „Erzählungen", doch wisse man nicht, wovon sie handeln. In einen eindeutig chronologischen Ablauf lassen sich die 14 Blätter kaum bringen, eher blitzen Momentaufnahmen aus einem unbekannten Handlungsstrang auf. Wegen ihrer knappen Aussage und zeichnerischen Reduktion zieht Ikemura Verbindungen zur japanischen Gedichtform des Haiku. 1985 erscheint von Matsuo Bashô die Publikation Hundertundelf Haiku mit 21 Blättern von Ikemura. Ihre Darstellungen sind allerdings nicht als Illustrationen der Poesie des 1644 geborenen Bashô zu verstehen. Vielmehr bieten die Bildschöpfungen eine Art Paralleluniversum, die in der Verknappung und als Assoziation, ähnlich wie bei den Haikus (kurze, dreizeilige, siebzehnsilbige Gedichte), in zeichnerischer Form entstehen: „Absichtslos aus einem Impuls heraus gearbeitet, in direkter Umsetzung einer Energie, die nichts im Sinn hat als den Strich des Stifts auf dem Papier. Diese Striche aber in ihren unterschiedlichen Konfigurationen - sei es zu weitgehend abstrakten Liniengebilden mit vagen bio- und zoomorphen Anklängen, zu fingernden Blütenblättern, zu fliegenden Menschen oder zu behaglich schnurrenden Katzen - diese Striche „erzählen" tatsächlich von „realen Begebenheiten". Wie der Haiku reproduzieren sie „die Zeigegeste des kleinen Kindes, das mit dem Finger auf alles mögliche zeigt (....): „Das!". Und „das!". Und „das!" (Marcel Baumgartner, in Ausst.-Kat. Ohne Titel, Aargauer Kunsthaus Aarau 1995).
Mit dem Zeichenstift, meist Kohle, hält Leiko Ikemura mit schnellem, sicherem Strich kleine Szenen fest, die sich teils in einer realen Gegenwart, teils auch nur in einer Fabelwelt lokalisieren lassen. Dabei sind es weniger die erzählten Gegebenheiten, als vielmehr der Akt des Erzählens im physischen Akt des Zeichnens, den die Künstlerin über die Welt und ihre Sehnsüchte erzählen lässt. Vor allem anderen ist es die Linie, mittels welcher sie in ihre Welt eintaucht, um die für Ikemura so typischen Sujets wie Figuren, Fabelwesen, Katzen, Pflanzen oder hybride Geschöpfe praktisch ohne Binnenzeichnung zu umreissen. Zwischen kraftvoll breitem und filigran schmalem Strich trennt die Linie nicht nur Figur von Umraum, sondern auch innen von aussen. Die Körper existieren quasi nur über ihre Umrisslinie, die äusserst präzise und kaum je nachgezogen das Volumen im weissen Nichts einfängt, ein offener, leerer Raum, der als einzige in den Bildern existierende Fläche gelten kann. Nur selten ist ein Horizont auszumachen, der den zeichnerischen Raum gliedert, so dass die Sujets kaum eindeutig zu verorten sind und seltsam in der Schwebe bleiben.
SM/EMJ