Ominöse Überfüllung des Glases, 1990
Man kann Hanimanns Zeichnungen nicht als freie Zeichnungen bezeichnen. Oft handelt es sich um ein Abzeichnen, ein Durch- oder Nachzeichnen. Dabei isoliert er die Umrissform von Personen und weiteren Dingen und stellt die Zeichnung in einen neutralen Raum, in welchem der lebendige Kontext nicht mehr vorhanden ist. Resultat ist ein unpersönlicher, zuweilen spröder, distanzierter respektive neutraler Strich, in welchem Wichtigkeiten und Unwichtigkeiten formal gleich geordnet und dargestellt werden und sich in einem weissen Umfeld ohne Handlungskontext präsentieren. Lebendigkeit ist erstarrt, was die Zeichnung zu einem Emblem macht, wo die Figuren und Objekte auf einen Restbestand von Individualität reduziert werden. Durch ihre Zeichenhaftigkeit haben sie einen festen Platz im Feld der Bedeutungen.
Die Bleistiftzeichnung Ominöse Überfüllung des Glases ist Teil eines Werkkomplexes von 10 Bleistiftzeichnungen und 2 Malereien mit Goldbronze auf Papier. Sie zeigt drei Szenarien auf Pergament, die, obwohl auf einem Blatt vereint und in gleichem Stil gezeichnet - ein zarter Strich, der sich auf die Umrisslinien beschränkt -, zugleich als drei unterschiedliche Geschichten zu lesen sind: Auf dem Flaschenhals einer VAT 69 - eine Flasche Scotch Whiskey aus Edinburgh -, jongliert ein kleiner Affe und sucht mit seinem vertikal ausgestreckten Schwanz das Gleichgewicht zu halten. Wird das Blatt um 90 Grad im Uhrzeigersinn gedreht, findet sich eine Affenmutter mit einem Kleinkind am Rücken grossflächig dargestellt. Sie nimmt über die Hälfte des Bildes ein. Die Finger einer Hand, die rudimentär angedeutet ins Bild hineinragen, scheinen die Affenmutter zu füttern. Auf ihrem Kopf jongliert ein Ball oder kreisrunder Gegenstand. Eine weitere Szenerie ereignet sich auf der linken Seite des Blattes, die wiederum in einem anderen Massstab ausgeführt ist. Sie zeigt einen Mann, der voranschreitet, während er von einem Hund in die Hand gebissen wird. Diese kleine Szene wird von drei Bleistiftstrichen gerahmt.
Die Motive hat der Künstler aus seinem umfassenden Bilderarchiv entnommen und nachgezeichnet. Trotz scheinbarer Objektivität sind die Motive aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst, was ihnen die Möglichkeit zu weiteren Geschichten gibt. So sehr diese Szenen voneinander getrennt sind und scheinbar nichts miteinander zu tun haben und auch nicht als einheitliche Geschichte zu definieren sind, so sehr sind sie miteinander verbunden und vermögen miteinander eine weitere Geschichte heraufzubeschwören. Die Welt des Menschen und jene der Tiere stehen miteinander in Kontakt. Die Konditionierung des Tieres durch den Menschen ist ein Themenbereich, der Hanimann immer wieder in verschiedenster Form beschäftigt. Die Beziehung Mensch-Tier scheint in diesem Blatt eine fragile zu sein - eine Affenmutter muss gefüttert werden, ein sehr kleiner Affe jongliert auf einer Flasche, ein Hund beisst einen scheinbar furchtlosen Mann. Eine ominöse Verbindung verschiedener Szenerien, die das Glas, wenn man mit dem Titel sprechen möchte, wohl zum Überlaufen bringen möchte, es hingegen schafft, auf dem Flaschenhals zu jonglieren.
EMJ