ohne Titel, 1995
Fabrice Gygi lässt in seinen Strukturen für Unterstand oder Zusammenkünfte die Wechselwirkungen zwischen Schutz, Gemeinschaft und Auslieferung an eine äussere Macht sprechen und weist damit auf die beängstigenden, ambivalenten Zusammenhänge zwischen Ordnung und Kontrolle, Autorität und Unterdrückung hin. Die elementare Installation, die mit ihrer Bedachung, zwei tiefen Wänden aus hellen Plastikplanen, wenigen orange-farbenen Schutzpolstern und einer einfachen Holzbank auf funktionale Weise eine kleinere Gemeinschaft aufnehmen kann, versteht der Künstler als leeres Inventar unserer Gesellschaft, deren Infrastruktur wie der ortsnahen Zivilschutz-Sektion entliehen scheint. Es sind offizielle Strukturen für Manifestationen und Aktivitäten, die vom Staat zur Verfügung gestellt werden, in deren Ordnungssystem sich die Gemeinschaft zu bewegen hat. Das klare, minimalistische System erzählt somit von Ordnung, Struktur, Sauberkeit, aber auch von Überschaubarkeit, Kontrolle und von Autorität. Sie beansprucht dabei eine erstaunliche körperliche Präsenz für sich, die mit dem mitgelieferten Lautsprecher-System, das man sich mittels Rucksack auf den Rücken schnallen kann, eine Aktion impliziert. Die leere Struktur macht eine gewisse Anziehung wie zugleich Abneigung und Unbehaustheit spürbar. Sie orientiert sich am Menschen und seinen möglichen Aktionen. Sie erzählt von der ambivalenten Situation zwischen Schutz und Aggression. Die Präzision und Ausführung der Struktur scheint für den Ernstfall geschaffen worden zu sein. Zugleich ist er nicht funktional. Das Aktionsfeld wird als Erfahrungs- oder Handlungsraum innerhalb der Metallstrukturen umrissen, auch wenn der innere Erfahrungsraum und das Potential des Lautsprecher-Systems mit dem selbst produzierten Techno-Sound weiter greifen und Ausübung von Macht und Kontrolle oft kaum sichtbar ist.
Im Kontext des White Cube wächst die zweckmässige, doch inhaltsleere Installation zu einem Unbehagen und man fragt sich, aus welcher Richtung eine Gefahr drohen könnte und wer die Handelnden im System sind. Machtausübung, Vereinnahmung ist immer möglich, sei es durch eine Institution oder im Zusammensein mit Mitmenschen, sei es bei einem Paar, in einer Freundschaft, in der Familie oder in Gemeinschaften, Ländern, Nationen. Da es unterschiedliche Formen von Gewalt, Ungleichgewicht und Unterdrückung gibt, müssen wir uns zwangsläufig fragen, in welchem System wir selbst uns befinden und welche Werte, Anweisungen und Errungenschaften wir in unserem Handlungsraum in Anspruch nehmen. Wir alle haben unsere Unschuld verloren und agieren in einem System von Tätern und Opfern, deren Position sich je nach Situation ändert und die Unterscheidbarkeit zwischen den Agierenden diffus geworden ist. Die Kampf- und Überwachungszone ist unter uns und Teil von uns. Diese Ambivalenz schafft eine unauflösbare Spannung, die die Arbeiten Gygis generell kennzeichnet und ermöglicht zugleich, sich von Selbsttäuschung und falschen Illusionen zu befreien und der lähmenden Ratlosigkeit zu entkommen.
EMJ