Leben & Werk Pierre André Ferrand

Pierre André Ferrand
* 1952 in Genf
lebt und arbeitet in La Chaux-de-Fonds

Pierre André Ferrand besucht von 1975-78 die damalige École supérieure d'art visuel (ESAV) bei Chérif Defraoui in Genf, der als promovierter Rechtswissenschaftler und charismatische Persönlichkeit in den Neuen Medien künstlerisch tätig ist. Sein 1974 gegründeter Lehrstuhl „Atelier des médias mixtes" eröffnet Studierenden durch eine diskursorientierte Ausbildung einen anderen als den bisher üblichen, akademischen Zugang zu eigenem Kunstwollen. Ferrand, der sich diesen Fragestellungen mit offenem Esprit stellt, versteht sich von Anbeginn als Maler und sucht gleichzeitig im „Atelier de peinture" die künstlerischen Techniken zu erlernen.

Von 1980-83 betreibt Ferrand gemeinsam mit Etienne Paul Marie Descloux in Genf den Ausstellungsraum „Apartment". Hier finden Ausstellungen (Malerei, Zeichnung, Performance, Fotografie, Film, Video, Musik, Tanz) mit jungen, in der Romandie dazumal unbekannten Deutschschweizer Künstlern statt, unter anderem mit Roman Signer, Fischli/Weiss, Klaudia Schifferle oder Jacques Herzog. Die Fragestellungen und Recherchen der damaligen Kunstszene in Genf prägen Ferrands Wirken und Werk, indem er sich mit Fragen zum Verhältnis von Form, Ausdruck und Inhalt eines Bildes und zur Malerei an und für sich (la peinture pure) auseinandersetzt. Auf der Suche nach seiner Persönlichkeit und somit auch in Auseinandersetzung mit seiner Autorschaft variiert er mehrfach seinen Namen: vom Versuch zu einem anonymeren Pier.Ndr.Ferrand in den 80er Jahren zu P.A. Ferrand bis zum heute gefestigten Pierre André Ferrand. Von 1985-86 besucht der Künstler, zur Weiterführung seines Studiums in der Malerei, die Akademie der bildenden Künste hinter dem damaligen eisernen Vorhang im polnischen Krakau bei Prof. Jerzy Nowosielski, einem Künstler in der Tradition der abstrakt konstruktivistischen, aber auch figurativen Malerei, die religiös geprägt ist. Dieser intensive Kontakt zu Polen bietet den Anfang zu weiteren bedeutenden Lebensabschnitten des Künstlers in Polen (bis 2000) und Litauen (bis 2007).

1982 vollzieht sich in Pierre André Ferrands Werk ein radikaler Bruch und eine grundlegende Infragestellung der Malerei, und zwar nicht nur aus konzeptuellen oder theoretischen, sondern ebenso aus spirituellen Gründen (die Suche nach Leere, Stille, Einfachheit oder Armut). Dabei galt es keineswegs einen Bildersturm auszulösen, als vielmehr Raum, einen Ort fürs Dasein zu schaffen und eine innere Freiheit zu erlangen. Damit in Zusammenhang sind ebenso Ferrands Aufenthalte im Osten zu sehen, wo er einen Mentalitätsraum findet, der seiner Suche nach Einfachheit und geistiger Konzentration entspricht. Seitdem ist sein Werk durch eine radikale Position in der Monochromie gekennzeichnet: Die bevorzugte Reduktion des Bildnerischen in einer uniformen, weissen Gesso-Grundierung auf Leinwand - der Künstler nennt sie eine „beabsichtigte Armut der verwendeten Mittel" / Santa Poverta, so ein Ausstellungstitel -, aufgezogen auf ein jeweils speziell angefertigtes Chassis unterschiedlich gestalteter Form aus Holz sind Grundkonstanten in seinem Werk. Diese „nicht gemalten Bilder" sollen in keiner Hinsicht minimale Beständigkeit, nüchterne, stumme oder gar konzeptuelle Malerei jenseits des Fühlens, Sehens und Denkens bedeuten. Ferrand erlebt die Armut in der Anwendung der künstlerischen Mittel produktiver als einen überbordenden Eklektizismus. In dem Sinne sucht der Künstler in der erwähnten Reduktion nach dem absoluten Bild, dem Bild vor seiner Abbildhaftigkeit. Man befindet sich somit am Ende und Anfang der Malerei gleichzeitig. Alles ist möglich und nichts kann mehr hinzugefügt werden, weil die Leere auf der weissen Leinwandfläche, die Ferrand keineswegs als „limitation", sondern als „libération" versteht, bereits alles, somit das Absolute in sich trägt. Damit unabdingbar in Zusammenhang stehend ist das einzigartige Ereignis im erlebenden Betrachten eines Werks im Raum. Jede Werkgruppe und vor allem jedes Werk soll eine einzigartige Erfahrung und Erkenntnis ermöglichen. Das natürliche, umgebende Licht spielt dabei eine zentrale Rolle, da die weisse, uniform bemalte Fläche auf Leinen das umgebende, sich stetig ändernde Licht reflektiert und dieses mit der Malerei als untrennbare Gegebenheit erlebbar wird.

Hat der Künstler in früheren Werken vornehmlich die Grösse und Form der Bildträger und ihre Präsentationsweisen (Präsentation in Gruppen in ihrer Differenziertheit oder als Serie in ihrer Repetition an der Wand, in Gruppen auf den Boden gestellt, solitär auf dem Boden oder an der Wand, auf Augenhöhe, unterhalb oder oberhalb der Augenhöhe, in unterschiedlichen Neigungswinkeln) variiert, so unterscheidet Ferrand bei späteren Werken seit 1991 zwischen zwei Bildgrössen: die Kleinen mit den ungefähren Massen von 30 x 30 cm, die sich dem Blick zeigen, und die Grossen mit den Massen 190 x 190 cm, die, tief gehängt, dem Körper der Betrachter gegenübertreten. Das Rahmenprofil ist dabei in solcher Art zugeschnitten, dass sich die aufgespannte Leinwand in der Vertikale nach hinten, in der Horizontale nach vorne wölbt. Dadurch wird eine Verformung der Schaufläche evoziert, wodurch zu verschiedenen Tageszeiten ein Reichtum von Licht- und Schattenwechsel erlebbar wird. In neueren Werken teilt der Künstler die gewölbte Fläche in zwei bis drei Farbfelder horizontaler oder vertikaler Richtung auf, die verhalten, doch nachhaltig interagieren. Dabei vermerkt Ferrand, dass die weissen Bilder ihn gelehrt haben, sehend in sich selbst zu gehen und sich mit seiner eigenen Vorstellung über die Kunst aber auch mit seiner Persönlichkeit auseinanderzusetzen. In diesem Sinne versteht Ferrand die Kunst als Träger, als Ausgangspunkt, um weitere Möglichkeiten des Verständnisses zu erlangen.

Gleichzeitig mit der Malerei auf Leinwand widmet sich der Künstler ab Mitte der 90er Jahre ebenso der Gouachemalerei, die spontaneres Experimentieren ermöglicht. Im Format von 30 x 25 bis 37 x 25 cm sind diese ebenso von einer ausgewählten Kargheit künstlerischer Mittel gezeichnet, doch erweitern sie den Blick durch mono- oder bichrom bewegte Farbcouloirs; in Überlagerungen und Transparenzen verdichten sie sich zu helleren oder tieferen Modalitäten in Ocker und Grün und führen schliesslich den Künstler wiederum zum Weiss zurück. Diese Erfahrungen haben den Künstler zu neuen Variationen in der bildnerischen Gestaltung geführt, indem er in der nachfolgenden Zeit auf nun rechteckförmigen, subtil geformten Chassis seine Palette neben dem Weiss mit tiefen Blau-, Schwarz-, Braun-, Grau-, Ocker- oder Gelb- und Grüntönen und mit gedämpften Rottönen, die er als Ölfarbe dem Gesso hinzufügt, erweitert. Dazu variiert er die zuweilen evidenten, zuweilen kaum wahrnehmbaren Konfrontationen zwischen den vertikal oder horizontal aufeinander folgenden Farbfeldern stetig von Neuem. Die Beschäftigung mit den Qualitäten von Farbfeldern eröffnet dem Künstler neue bildnerische Fragestellungen und Möglichkeiten in der Aufteilung der Bildfläche und der Darstellung von Form und Raum. Eine weitere, bedeutende Entwicklung erfährt sein Werk im Jahr 2002 durch einen ungewollten kleinen, etwa 1 cm langen Riss in der Leinwandstruktur. Diese Öffnung der Leinwand erinnert den Künstler an den Heiligen Franz von Assisi, der als erster die Stigmata Christi empfangen hat. Mit diesem Zeichen arbeitet der Künstler fortan weiter an seinen differenziert monochromen Werken und erweitert mit präzis gesetzten, kleinen Öffnungen (er zerschneidet wenige Fäden der gewobenen Leinwand, damit sich diese durch die Spannung etwas öffnet), denen entlang die flüssige Farbe oder das Weiss verrinnt oder gerinnt, seine Thematik mit der Auseinandersetzung der Passion Christi.

Ferrand verleiht seinen weissen, monochromen, bi- oder trichromen Werken Titel: Essential Painting, Echo, Plan de fuite, LdLT, Lumière de la Tradition, Vision de saint Eustache oder IC XC, aber auch Sans titre mit jeweils nachfolgender minutiöser Datierung. Sie dienen dazu, die Werke voneinander unterscheiden zu können, und zugleich kann der Titel ein Hinweis darauf sein, in welcher Weise man das Bild betrachten könnte.

Pierre André Ferrands Wirken ist, obwohl durchaus mit dem Zeitgeist verbunden, als Aussenseiterposition wahrzunehmen. Seine solitäre Suche nach dem Geistigen versteht sich im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der Malerei des 20. Jahrhunderts und der Frage, was sich in einem Bildwerk, in seiner Verkörperung finden kann, was sich hinter der wahrnehmbaren Form finden könnte, wie das Unfassbare, Unsichtbare seinen Ausdruck erlangen kann und wie Licht und Zeichen erfahren werden können.

 

Sein Werk befindet sich in einigen bedeutenden Schweizer Sammlungen (Privatsammlungen, Musée des beaux-arts La Chaux-de-Fonds, Kunstmuseum Winterthur, Musée d'Art et d'Histoire Genève,  Sammlung Ricola Laufen, und vor allem auch in Privatsammlungen. Einzelausstellungen fanden unter anderem statt in der Kunsthalle Winterthur, in der Kunsthalle Palazzo in Liestal, im Musée d'Art et d'Histoire in Genf, im Kunstmuseum Winterthur, im Musée des beaux-arts in La Chaux-de-Fonds, im Haus of Art in Budweis, in der Academija Gallery in Vilnius, im Carmelite Institute for Spirituality in Krakau, an der Hungarian University of Fine Arts in Budapest.

 

Esther Maria Jungo

 

 

 

Werke sortiert nach Titel ↑JahrGattung

Bild Informationen Beschreibung

Pierre André Ferrand

Ezra Pound's Last Dream

1985

Gesso auf Leinen, 8-teilig

Masse Variabel a) 55 x 40 cm b) 40 x 35 cm c) 78,4 x 45,4 x 12cm d) 140 x 70,5 x 6,5 cm e) 258,6 x 149 x 12,7 cm f) 244 x 103 x 6,6 cm g) 248 x 39,1 x 6,8 cm h) 130,4 x 100,2 cm

Malerei

Ezra Pound's Last Dream ist ein früher Werkkomplex, bestehend aus 8 weissen Leinwandbildern, von denen 7 auf den Boden gestellt und an die Wand gelehnt sind, und eines am Schluss der Reihe ist auf Augenhöhe an der Wandfläche angebracht. In diesem Werkkomplex kristallisiert sich bereits in mustergültiger Weise das Kunstwollen Ferrands und zugleich... [ Weiter ]