Equilibres (aus 'Stiller Nachmittag'): Der Stillstand, die Müdigkeit, 1985

Equilibres (aus 'Stiller Nachmittag'): Der Stillstand, die Müdigkeit, 1985, Peter  Fischli / David Weiss

Mit einer Reihe von 27 Fotografien, genannt Equilibres, aus der Fotoserie mit dem suggestiv-poetischen Titel Stiller Nachmittag (1984/85) führen Fischli / Weiss die Beschäftigung mit Alltagsgegenständen weiter, indem sie mittels einfachen, bereits von Spuren der Nutzung gezeichneten Objekten (Stuhl, Krug, Flasche, Büchse, Leiter, Küchengeräte), aber auch mit allerlei Gemüse, Obst, Kartoffeln extreme und kühne Gleichgewichtsgebilde gestalten. Diese sind derart kompliziert und waghalsig gebaut, dass sie kaum glaubhaft erscheinen. Diese fragilen Höhenflüge werden für das Werk fotografisch im Zweidimensionalen festhalten, bevor das Strandgut aus dem Atelier wieder in sich zusammenfällt. Die Einzelteile und der Prozess, der zum Werk führt, fragen auf absurd-ironische Weise nach der Funktionalität und Alltagswirklichkeit von Objekten wie auch von Kunstwerken. Wie lange vermögen sich die labilen Konstruktionen aus alltäglichen Objekten aufrecht zu erhalten? Alles stützt sich gegenseitig, doch nirgendwo findet sich eine reale Verankerung mit dem stabilen Grund. Diese Antworten werden zugunsten des wahren Standbildes verschwiegen, doch wird das Gleichgewicht wohl nur ganz kurz bestanden haben. Das Prinzip der traditionellen Plastik wird dabei an einen Endpunkt geführt. Die Stille des Nachmittags bezieht sich auf den kurzen, unverhofft stillen Moment vor dem lärmenden Zusammenbruch (der uns vorenthalten wird) und verweist mit der erwarteten Auflösung auf die Notwendigkeit eines mehr oder minder stabilen Gleichgewichts von Kunst und Alltagsleben. Der Titel bezieht sich wohl noch stimmiger auf die Stille eines endlos erscheinenden Nachmittags, in der man sich mit scheinbar sinnlosen Bricolagen auf artistische Weise die lange Zeit vertrödelt und damit Freude über die Weisheit des Unsinns erzeugt. Zugleich weisen die komponierten Gebilde auf die ungenutzten artistischen Qualitäten unserer Alltagsgegenstände hin wie auch auf die Doppelbödigkeit, das trügerische Spiel mit den Dingen und die sorgfältige Perfektion in der scheinbar unbeschwerten Spielerei.
Dabei gibt uns das bewährte kunsthistorische Vokabular nur wenige Möglichkeiten in der Interpretation von Form und Inhaltlichkeit. Da balancieren die Vorderläufe eines Stuhlbeinpaares auf den umgekehrten Vorderläufen eines weiteren, gleich aussehenden, ebenso mit Farbe bekleckerten Stuhls, dessen Lehne auf einem Salzfass jongliert, währenddessen der hintere Teil der Sitzfläche des anderen Stuhls von einer Versandrolle aus Karton abgestützt ist, die ihrerseits auf einer leeren Cola-light-Flasche balanciert und das fragile Gleichgewicht in der Schwebe hält. Oder: Ein Topf schwebt nahezu frei zwischen einem Türrahmen, gehalten von zwei unterschiedlich starken hölzernen Latten. Was sich als inhaltliche Auseinandersetzung findet, ist das spielerische Ausloten der Schwerkraft in einem Sekundenbruchteil labiler Balance, wie dies der Nebentitel platt-genial zum Ausdruck bringt: Am schönsten ist das Gleichgewicht, kurz bevor's zusammenbricht.
Eine weitere Auseinandersetzung, die ebenso das gesamte Werk des Künstlerduos betrifft, ist das Spiel mit sozialen Sinnträgern unserer Gesellschaft - Leiter, Stuhl, Säge, Flasche, ausgesuchte Nahrungsmittel -, um sie in ein neues oder zumindest anderes Ordnungsgefüge zu stellen und dabei neu zu beschreiben. Schliesslich zehrt das Duo am Erbe Marcel Duchamps', aber auch an den Konstruktionen Jean Tinguelys, indem sie mit ihrem nicht haltbaren Gleichgewicht und der Thematisierung der fragilen Existenz im Lauf der Dinge die gründlich indoktrinierte Maxime der sinnvollen „form follows function" auf paradoxe Weise, entsprechend der Formel „anything goes", erfüllen. Sie haben die Welt auf den Kopf gestellt, um das Chaos in ein System zu bringen.

Die einzelnen gewagten Konstruktionen werden mit augenzwinkernden Titeln versehen, die im Zusammenspiel zwischen narrativen Albernheiten oder Anekdoten, lakonischer Bestandesaufnahme mit dadaistischem oder poetischem Impetus, Parabeln und Neologismen oszillieren und dabei eine Interpretation, wenn überhaupt, erschweren oder diese in eine andere Richtung lenken und somit unerwartete Analogien evozieren: Ehre, Mut und Zuversicht beispielsweise, diese hehren männlichen Tugenden, die sich dem Stillstand und der Müdigkeit oder der Schlummerschlinge entgegen stellen. Die Dinge werden entrückt und so einem neuen Blick preisgegeben. Die Folgeanordnung der 8 Fotografien in der 27-teiligen Serie hat keine Bedeutung.

Frau Birne bringt ihrem Mann vor der Oper das frischgebügelte Hemd. Der Bub raucht (73045)

Sicheres Auftreten (73044)

Der Stillstand, die Müdigkeit (73042)

Die Gewerkschaft (73041)

Schlummerschlinge (73040) / (im Ausst.kat. Kunsthaus Zürich S. 96: Liegende)

Die Gesetzlosen (73039)

Ehre, Mut und Zuversicht (73038)

Die Überblicksausstellung über die aktuelle Schweizer Kunst von Kunstschaffenden unter 40 Jahren im Zürcher Kunsthaus (1987) hat ihren Titel Stiller Nachmittag von Fischli / Weiss' gleichnamiger Fotoarbeit entliehen und daraus ein Leitmotiv geschaffen, ohne dabei auf formale Tendenzen verweisen zu wollen. Vielmehr bekundete sie eine Offenheit mit Blick in verschiedene Richtungen.

EMJ

 

Künstler
Peter Fischli / David Weiss
Gattung
Fotografie
Material
s/w Fotografie
Masse
Blattmasse: 30,0 x 40,0 cm
Standort
Depot
Inventarnummer
F 2003.201e
Credits
Geschenk Marianne Gerny / Schenkung Stiftung Kunst Heute, 2003
Provenienz
Ankauf 1988 bei den Künstlern
Ausstellungsgeschichte

Literatur

Weitere Infos